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Entscheidungen treffen – ein Mechanismus unserer Entwicklung

Entscheidungen treffen ist ein spannendes Thema, das immer wieder im Therapie- und (noch häufiger) im Coachingsetting aufkommt.

Wir verbinden Einiges mit Entscheidungsstärke als wahrgenommener Charaktereigenschaft: zum Beispiel Mut, Entschlossenheit und auch Führungsqualitäten.

Einer geglaubten Entscheidungsschwäche hingegen werden – ebenso stereotyp – negative Eigenschaften zugeschrieben – ob eine Entscheidung nicht zu treffen dabei wirklich immer eine Schwäche ist, verdient eine genauere Betrachtung. Denn eine mögliche Gegenposition wäre ja, Ambivalenzen aushalten zu können (und nicht durch Entscheidungen rasch aufzulösen). Unabhängig davon gibt es aber auch Entscheidungsschwäche, die sich aus einem Verhalten ergibt, sich nicht festlegen zu können, weil damit Befürchtungen oder Ängste verbunden sind.

Ob eine Entscheidung gut war, sehen wir meist erst im Rückblick. Im Moment der getroffenen Entscheidung atmen wir aber auf: die Gleichzeitigkeit mehrerer Optionen bzw Entwicklungsrichtungen wurde überwunden, es kann (wieder) gehandelt werden.

Die Etymologie des Wortes „Entscheidung“ gibt uns hierbei einen interessanten Hinweis: nämlich dass es in dem Prozess nicht nur darum geht, wofür wir uns entscheiden (wie es die spätere Sprachentwicklung nahelegt), sondern was wir ‚ent-scheiden‘:

➞ Denn das Präfix ent- (zurückgehend auf das althochdeutsche int-, weiterhin auf das gotische and-, bis hin zum zum germanischen anda-) gibt uns in dem Kompositum entscheiden Bedeutungen wie ‚entgegen‘ bzw. ‚von etwas weg‘ vor.

 

Eine Grundbewegung unserer Entwicklung

Das Besondere in den Diskussionen über Entscheidungstärke oder -schwäche ist also nicht der Prozess selbst (‚Entscheidungen zu treffen‘), sondern das, was wir dem zuschreiben. All diese Zuschreibungen können zwar, aber müssen gar nicht mit der eigentlichen Entscheidung zu tun haben.

Systemtheoretisch betrachtet ist eine „Entscheidung“ nichts anderes als Komplexitätsreduktion. Ich führe den Gedanken kurz aus – und hoffe, es klingt nicht zu nerdig:

Die Komplexität bezieht sich auf die Vielzahl möglicher Zustände, Handlungen, Informationen, etc., die in einem zu definierenden System vorhanden sind oder von diesem verarbeitet werden müssen. Da die Kapazität jedes Systems zur Verarbeitung begrenzt ist (eines Gehirns, einer Organisation, eines Algorithmus, einer Gesellschaft, etc.), benötigen wir Mechanismen zur Reduktion der Komplexität, um (bei Menschen manchmal nur geglaubt) handlungsfähig zu bleiben, Ziele zu erreichen oder Entsprechendes.

➞ Eine Entscheidung reduziert die Komplexität, indem sie auswählt, und damit alle anderen Möglichkeiten ausschließtauch die, die wir (noch) nicht (er)kennen.

Der Auswahlprozess verringert Komplexität und erleichtert somit eine (Handlungs)Richtung. Die Komplexität aller Umwelten (und/oder innerer Zustände) des Systems wird auf ein Maß reduziert, welches dem System (bei Menschen zurecht oder zu unrecht so interpretiert) ermöglicht, seine Struktur zu erhalten oder Funktionen weiterhin auszuführen.

Durch Entscheidungen steuern Systeme ihre eigene Komplexität und regulieren ihre Umweltbeziehungen. Entscheidungen sind fundamentale Prozesse der Strukturbildung und (Selbst)Erhaltung von Systemen.

 

Soweit die Theorie. In unserem Alltag werden aber einige unserer Entscheidungen im Kontext der Zuschreibungen getroffen, die wir oder andere dem eigentlichen Prozess beideuten. Es kann inhaltlicher Art sein oder aufgrund von Persönlichkeitszuschreibungen wie z.B. ‚wenn ich mit dieser Entscheidung den Eindruck von Handlungskompetenz erzeuge, dann treffe ich die Entscheidung so‘. Die Bewertungen von außen, die wir dem Prozess einer Entscheidung zuschreiben, können ‚Entscheidungträgern‘ wichtiger erscheinen, als die strukturerhaltende Reduktion der Komplexität.

 

Unsere besonderen Zuschreibungsqualitäten

In der Theorie kann einem Entscheidungsprozess also weder Stärke noch Schwäche zugeschrieben werden. Doch genau das tun wir: Wir bedenken Personen, die Entscheidungen „leichter“ als Andere treffen, zum Beispiel mit Zuschreibungen wie ‚führungsstark‘ oder ‚charismatisch‘. Warum ist das so?

a) Zum Beispiel werden Personen, die relativ schnell und scheinbar müheloser Entscheidungen treffen, von uns oftmals als entschlossene Persönlichkeiten wahrgenommen. Und Entschlossenheit wird in sehr vielen Kulturen als wünschenswerte Führungseigenschaft angesehen. Mit solcher Entschlossenheit könnte der Person dann weiterhin zugeschrieben werden, klar in ihrer Vision zu sein bzw. ‚einen klaren Plan zu haben‘, und das schenkt wiederum Vertrauen und Sicherheit.

b) Von Führungspersonen wird manches mal geradezu verlangt (z.B. in Eignungsverfahren), Entscheidungen schnell treffen zu können. Gute Entscheidungen wird dabei natürlich auch impliziert, könnte aber der Schnelligkeit des Prozesses gleichzeitig entgegen wirken – manches mal will ‚gut Ding Weile haben‘. Personen, welche die Fähigkeit besitzen, bestimmt und klar auf Andere zu wirken, wenn sie Entscheidungen fällen, werden dann als starke Führungspersönlichkeiten angesehen, und ihnen wird zugeschrieben, Anderen Richtung und Orientierung zu geben. Führungskompetenz ist weiterhin mit der Idee hohen Charismas verbunden, und charismatischen Führer:innen wird z.B. die Fähigkeit zugeschrieben, Andere zu inspirieren und zu motivieren.

c) Schnelle Entscheidungsfindung wird weiterhin auch mit einem hohen Maß an Selbstvertrauen in Verbindung gebracht. Wenn Personen Entscheidungen ohne erkennbares Zögern treffen können, wirken sie oft auf Andere selbstsicher und kompetent. Solch ein Selbstvertrauen kann inspirierend sein und dem Umfeld Sicherheitsgefühle geben.

d) Außerdem schreiben wir Personen, die Entscheidungen treffen, gern die Fähigkeit zu, Risiken bewerten und managen zu können. Da sie komplexe Informationen schnell verarbeitet und bewertet haben müssen, um zu ihrer Entscheidung zu kommen, schreiben wir ihnen gern Intelligenz zu, welches eine Eigenschaft darstellt, die ebenfalls ein besonderes Charisma charakterisiert.

 

Zögern gilt als Schwäche

Die Furcht, eine ‚falsche‘ Entscheidung zu treffen und dadurch möglicherweise negative Entwicklungen auszulösen, kann geradezu lähmend wirken. Aus diesem Grund schreiben wir Menschen, die sich mehr Zeit für Entscheidungen lassen, nicht selten (Führungs)Schwäche zu.

Natürlich gibt es diese Angst. Sie kann aus früheren Erfahrungen mit getroffenen Fehlentscheidungen herrühren, oder z.B. mit einem Mangel an Selbstvertrauen zusammenhängen. Spezielle Kategorien wären hierbei auch der Drang zu Perfektion, oder ein Bedrängtheitsgefühl, wenn es gälte, Kompromisse einzugehen. Perfektionisten möchten ja zum Beispiel oft die absolut beste Option wählen, was aufgrund der Komplexität, die es ja gerade zu reduzieren gilt, schwerer zu erreichen ist – und im Auswahlprozess dann entsprechend mehr Zeit braucht.

Grundsätzlich gibt es ja die „Paradoxie des Entscheidens“ – wenn wir zu viele Optionen haben, wird der Prozess des Abwägens, der Auswahl (und Ent-scheidung) natürlich immer komplexer und zeitaufwendiger.

Es gibt auch Menschen, die eine regelrechte Aversion gegen Mehrdeutigkeiten haben und sich unwohl fühlen, wenn sie Entscheidungen unter diesen Unsicherheiten treffen müssen (einer sog. ‚Ambiguitätsaversion‘, dem Gegenstück zu der eigentlich positiven Fähigkeit des Nichtentscheidens, wie oben kurz erwähnt, der ‚Ambiguitätstoleranz‘).

Auch die Prokrastinateur:innen, Meister des Aufschiebens als einer Spezialform von Vermeidungsverhalten, können hier genannt werden. Nachvollziehbar, wenn eine Entscheidung zur Handlung befähigen würde – die ja aufgeschoben werden soll.

 

Entscheidungen treffen – im organisationalen Zusammenhang

Die Liste könnte immer länger werden. Nicht nur im Coaching- oder Therapieprozess dekonstruieren wir bei diesem Thema z.B. auch kognitive Verzerrungen, wie etwa den Bestätigungsfehler – also eine Neigung, bestimmte Informationen zu bevorzugen, weil sie die eigene(n) Überzeugung(en) unterstützt. In organisationalen Umfeldern  oder in Gruppenprozessen gilt es bei Entscheidungsprozessen, u.a. die Verfügbarkeitsheuristik zu bedenken – was verhindern soll, dass wir unsere Entscheidungen nur auf der Grundlage von Informationen treffen, die für uns leichter verfügbar sind, anstatt alle (teils schwer zugänglichen) relevanten Informationen zu berücksichtigen. Beliebt ist in diesen Umwelten auch die besondere Kultivierung des Status-quo-Bias, also einer ‚Präferenz‘ im Verhalten, all die Dinge so zu belassen, wie sie gerade sind, das wird dann als leichter, praktischer und besser angesehen, als Veränderungen vorzunehmen.

 

Ent-scheiden Sie

Dies Alles ist ja nur zu Ihrer werten Anregung. Grundsätzlich spielen beim Bedenken oder Trainieren (auch coachen und therapieren) von Entscheidungsfähigkeiten viele Faktoren eine Rolle, ein Anspruch auf Komplettheit wäre hier vermessen. Techniken des Zeitmanagements, der Stressreduktion, (selbst)kritischer Dekonstruktion bzw. Bewertung von Informationen oder Denkmustern und vieles mehr fließen hier ein.

Der Grund, warum ich darüber hier schreiben wollte, war ein neues (Ratgeber)Buch zum Thema ‚Entscheidungen treffen‘, und in dem Zeitungsartikel über das Buch hatte ich wirklich große Fragezeichen im Kopf, und vielleicht auch auf der Stirn. Eventuell konnte ich Ihnen ja etwas Anregung hiermit bieten, ohne dass sie solch ein Buch kaufen müssen. 😉