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Die Trauer, die wir nicht sehen

Unser Verständnis von Trauer ist auf markante Ereignisse des Lebens beschränkt. Wir betrauern den Verlust von etwas, z.B. eines geliebten Menschen, das Ende einer tiefgehenden Beziehung oder ähnliche, einschneidende Wendepunkte in unserem Leben.

Doch was wäre, wenn Trauerphänomene viel häufiger und in subtilerer Weise in unserem Leben auftreten können – ein unterschwelliger, vorübergehender, emotionaler Prozess, der mehr alltäglich als selten ist? Ich rede hierbei wohlgemerkt nicht von Depressivität, sondern von einer aufgrund ihrer Häufigkeit eigentlich „normalen“, emotionalen Sensation, die wir aber nicht sonderlich beachten oder bewusst durchleben, sondern zumeist kompensieren.

 

Trauer muss uns nicht innerlich überschwemmen

Wie gesagt ist Trauer eine natürliche, emotionale Reaktion auf Verlust, und sie gehört neben Wut, Angst, Ekel und Überraschung zu unseren „Grundgefühlen“, besagen etwas ältere Auffassungen. Vielleicht denken deswegen Manche, dass wir keine „kleine Trauer“ empfinden können, weil es ja so gern betont wird, dass die Amygdala uns mit diesen „Grundgefühlen“ überflutet – also immer kurzzeitig durch eine Art intensiver, schubweiser Emotion so etwas wie ein kurzzeitiger Kontrollverlust entsteht.

Ich glaube, wir Menschen sind mit unserem Emotions- (und Kompensations-)Verhalten viel dynamischer, so dass wir Wut (die uns zum Kampf befähigen soll), Angst (die uns zur Flucht befähigen soll), Ekel (der uns vor Vergiftung schützen soll), Überraschung (die unsere Wahrnehmungssinne schärft und uns Etwas schneller erlernen lassen soll) und eben auch Trauer (die uns schließlich zum Neuanfang befähigen soll) auch in subtileren Prozessen erleben. Es sind dynamischere Prozesse, und nicht einfach on/off.

Ich bleibe hier bei der Trauer: sie ist für mich also nicht nur auf einen Verlust wie den Tod von Jmd. oder auf schwere Trennungen beschränkt; jeder Verlust, Abschied, jede Veränderung oder selbst das Verpassen einer schönen Möglichkeit kann in uns Trauer auslösen.

 

Ein beinahe alltäglicher Lebensbegleiter

Zum Beispiel das Ende einer „geliebten“ Routine, des Urlaubs, einer gewissen Lebensphase kann innerlich Trauer auslösen, es kann auch der Auszug (eines) der Kinder sein, oder das Ende einer „liebgewonnenen“ Gewohnheit… Mit „geliebt“ und „liebgewonnen“ erheben wir die Gewohnheiten übrigens (selbst)erklärenderweise sprachlich in den Bereich emotionaler Beziehungen (Liebe), und erleichtern uns selbst und eventuellen Gesprächspartner:innen somit das Nachvollziehen („liebgewonnen?… achso, na dann…“).

Doch sagen wir bei diesen „kleineren Traueranlässen“ auch konsequent „ich bin in Trauer“ bzw. „ich gehe gerade durch einen Trauerprozess hindurch“, und gestehen uns somit die wichtigen Phasen des Abschieds, der Akzeptanz und der Transformation zu? Vielleicht müssen Sie ja gerade (wie ich) lächeln – es erscheint doch etwas ungewöhnlich an dieser Stelle.

Auch ein Jobwechsel, eine Beförderung oder natürlich der Ruhestand können (für Manche evtl paradoxerweise) zu Trauergefühlen führen. Der Verlust von sozialen Bindungen zu Kollegen oder auch kulturelle Veränderungen können Trauer auslösen. Ich denke, es erfordert hier grundsätzlich ein aufmerksames Bewusstsein für die (eigenen) Gefühle und Reaktionen auf Veränderungen im Leben.

Möchten Sie noch weitere Beispiele? Gern:

  • Der Verlust eines persönlichen Gegenstandes, der emotionale Bedeutung hat – wie ein Schmuckstück, „Lieblingsstift“ oder Erinnerungsstück – kann zu einem (kleineren) Trauerprozess führen.
  • Das Älterwerden, gesundheitliche Veränderungen oder auch natürliche Veränderungen am eigenen Körper können z.T. beachtliche Trauer auslösen. Nicht nur hier (aber hier ganz besonders) ist eine Brücke zu Yaloms ‚Existenzieller Psychotherapie’…
  • Eine Veränderung in der täglichen Routine, zum Beispiel durch einen Jobwechsel oder den Umzug in eine neue Stadt, kann Trauergefühle hervorrufen, da man die vertraute Struktur und Umgebung verliert.
  • Das Abflauen oder die Veränderung einer Freundschaft kann unterschwellig Trauer in uns auslösen, selbst wenn es keinen Streit oder offensichtlichen Konflikt gab, der das Verständnis hierbei erleichtern würde.
  • Für Viele wieder nachvollziehbarer: der Verlust oder das Weggeben (müssen) eines Haustiers, kann, je nach Intensität der Beziehung zum Tier, starke Trauerreaktionen hervorrufen.
  • Noch feiner: Enttäuschungen (also enttäuschte Erwartungen oder enttäuschende Geschehnisse) im Alltag, zum Beispiel das Verpassen einer Chance oder auch das Nichterreichen eines Ziels, können Trauergefühle auslösen.
  • Auch der Wechsel der Jahreszeiten kann bei Menschen unterschwellige Trauer auslösen, den Herbst- oder Winterblues.

Hierbei und grundsätzlich ist wieder eine feine Abgrenzung zur Depressivität zu treffen.

 

Trauer ist ein integraler Bestandteil unseres menschlichen Daseins. Und sie findet häufiger statt, als nur bei großen Verlustereignissen. Wenn wir lernen, auch die subtilen Formen der Trauer in unserem Leben zu erkennen und (angemessen) anzunehmen, dann können wir zu einem ehrlicheren Kontakt mit uns selbst gelangen.

Ich habe einige Male Klient:innen mit einem subtileren Trauerthema im therapeutischen Prozess in meiner Praxis  gehabt. Und wenn ich es direkt als Trauer benannt habe, entstand so etwas wie ein erlösender Moment – denn nun war es scheinbar erlaubt, die Trauer zuzulassen (und nicht mehr kompensieren oder funktionieren zu müssen), und es war nicht immer klar, ob ein kullerndes Tränchen nun aus zugelassener Trauer oder aus Erleichterung lief.

 

Schwere Trauer

Hiervon unabhängig sind schwere Trauerprozesse zu besprechen, die ich zu Beginn dieser Anregung ja ausgeschlossen habe, um subtilere Formen vorzustellen. Bei größeren Trauerprozessen ist es natürlich umso wichtiger, den Prozess (und die Gefühle) zu akzeptieren und zuzulassen, zudem ist es hier oft auch sinnvoll, sich therapeutische Unterstützung zu suchen. Ernsthafte Trauer bei Verlust eines geliebten Menschen o.ä. ist natürlich auch viele Gedanken und Erläuterungen wert, diese werde ich aber, wenn ich Zeit finde, in einem extra Artikel besprechen.