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Autonomie – unsere Reise zur Selbstbestimmung

Über Autonomie zu schreiben, ist ein großes Vorhaben, und kann ganz sicher nicht (m)einen (eigenen) Vollständigkeitsanspruch erfüllen. Ganze Bücher könnten zu diesem Thema gefüllt werden.

In unserem täglichen Streben als Mensch spielt die Autonomie eine zentrale Rolle. Und es beginnt im kleinsten Kindesalter. Mehr noch: Die Art, wie wir unser Autonomiestreben – im dyadischen Zusammenspiel mit systemerhaltenden Bindungshandlungen – ausprägen, stellt ein wesentliches Merkmal unserer Persönlichkeit dar, wie ein Fingerabdruck. Jede:r hat hier eine eigene Balance und persönliche Ausprägungen, bzw. ganze Lebenswege.

Autonomie, das ist auch die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und das Leben im Gefühl der Selbstbestimmung zu gestalten – damit ist es ein Grundpfeiler psychischer Gesundheit und persönlicher Entwicklung. Gleichzeitig sind genau hier all die persönlichen Geschichten verborgen, die Jede:r mit sich herumträgt – und mit denen meine Klient:innen zu mir in die Praxis kommen. Nicht zufällig habe ich diesen Artikel in die Kategorie „Selbstbild und Fremdbild“ zu den anderen Beiträgen, z.B. zu unserem Selbstwertgefühl, eingestellt.

Autonomie ist mehr als ein „Unabhängigkeitsgefühl“: Es ist die Fähigkeit, eigene Werte, Überzeugungen und Bedürfnisse für sich zu etablieren und danach zu handeln. In der Psychotherapie sehen wir Autonomie als einen Prozess, der es Individuen ermöglicht, authentische Entscheidungen zu treffen, die im Einklang mit dem erlebten, „wahren“ Selbst stehen.

 

Autonomie – ein Lebensweg voller Herausforderungen

Der Weg zu erlebter Autonomie ist oft mit Herausforderungen gepflastert. Stark prägende Einflüsse wie (familiäre, elterliche, lehrerseitige, von Freund:innen herangetragene) Erwartungen, auch gesellschaftliche und kulturelle Normen können das Gefühl individueller Autonomie beeinträchtigen, sind aber gleichzeitig notwendig (dies ist das angesprochene, dyadische Zusammenspiel mit Bindungshandlungen oder auch sozialer Identifizierung, Nachahmung, Orientierung, etc). Hier können nun interne Faktoren wie Selbstzweifel, Ängste und ungelöste Konfliktgeschichten eine gefühlt autonome Lebensführung erschweren.

In der Systemischen Therapie wollen wir gemeinsam daran arbeiten, das Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu verifizieren und empfundene Hindernisse auf dem Weg zu einem größeren Eigenständigkeitsgefühl zu überwinden. Dies beinhaltet die Arbeit an der Selbstakzeptanz, ein Verstehen, Akzeptieren und Integrieren oder Transformieren innerer Konflikte, sowie das Erlernen von Fertigkeiten zur Selbstbehauptung und z.B. auch Grenzsetzung.

 

Mögen Sie Beispiele?

Bevor ich hier irgendwas Beispielhaftes schreibe, ist mir wichtig zu betonen, dass ich mir das ausgedacht habe – und nicht etwa von Klient:innengesprächen einbringe. Falls es einzelne Punkte mit Ähnlichkeiten gibt, sind diese zufällig, hier wird Niemand angesprochen und es soll auf Nix angespielt werden. Beispiele sind halt einfach super für ein besseres (Anwendungs)Verständnis, und darum geht es hier.

Also zum Beispiel Julia, 38 Jahre, die vielleicht als Grafikdesignerin arbeitet. Sie könnte in einer Familie aufgewachsen sein, in der traditionelle Werte und ein eher konservativer Lebensstil vorherrschten. Sie selbst fühlt sich aber zu einem deutlich freieren, kreativeren und nach ihrem Empfinden „zeitgemäßen“ Lebensstil hingezogen. Sie wird nicht Lehrer:in (oder Ärztin, etc), sondern findet besonderen Reiz an ihrer kreativen Arbeit.

Julia erlebt nun einen oft verdeckten, aber starken Konflikt zwischen ihrem Wunsch, ihre Herkunftsfamilie nicht zu enttäuschen, und ihrem Bedürfnis, ihre eigene Identität und Lebensweise zu verfolgen. Dieser Konflikt kann schon an vielen Stellen (seit der Kindheit) kompensiert worden sein, so dass es Julia gar nicht bewusst ist, wo überall dieser Konflikt „drunterliegt“ – sie spürt aber, was es mit ihr macht, bzw. entwickelt mit der Zeit einen gewissen Leidensdruck, der auf verschiedenste Art und Weise zu Tage treten kann, selbst in Form von somatischen „Krankheitssensationen“.

> In der Therapie würden wir nun versuchen, gemeinsam daran zu arbeiten, ihre eigenen Werte zu erkennen, „freizulegen“ und auf eine gute und angemessene Weise zu stärken. Julia soll mit ihrer therapeutischen (von mir unterstützen) Eigenarbeit lernen, sich von ihrem (gefühlten) familiärem Druck zu distanzieren bzw zu emanzipieren.

Passend: (lat. e-man-cipare = ex (aus, heraus) – manus (Hand) – capere (nehmen, fassen, ergreifen) – etymologisch gesehen also tatsächlich so etwas wie das Loslassen einer [elterlichen] Hand.

Julias Entwicklungswunsch wäre also die Überwindung von Selbstzweifeln und eine Förderung größerer, gefühlter Selbstbestimmung.

 

Ach, es gäbe viele weitere Beispiele. Ebenso könnte ein „Micha“, vielleicht Mitte 40, als so etwas wie ein Projekt- oder IT-Manager sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellen und sich oft (zu) sehr von den Erwartungen seines beruflichen Umfelds leiten lassen. Das kann dazu führen, dass, obwohl Micha eigentlich einen durchaus beachtenswerten beruflichen Erfolg vorweisen kann, er sich innerlich abwertet und zudem unsicher über seine wahren Wünsche und Ziele ist. Ein Gruß an alle Perfektionist:innen an dieser Stelle – ich beziehe mich da gerne mit ein.

 

Autonomie – auf besondere Weise auch ein Thema in Beziehungen

Das dyadische Spiel zwischen Autonomiebestreben und Bindungswunsch dürfte Jede:r schon einmal in angehenden Beziehungsversuchen erlebt haben (behaupte ich). Dazu könnt Ihr gern auf meiner Paartherapieseite weiterlesen. Ich nehme hier als Beispiel jetzt mal extra ein anderes als das eines missglückten Beziehungbeginns: Wenn ein Paar sich viele Jahre gemeinsam in der Beziehung entwickelt hat, sie Beide (oder eine Person) aber mit der Zeit das Gefühl beschleicht, keine eigenen „individuellen Bedürfnisse“ (mehr) zu (er)kennen und (aus)zu leben.

Dann kämpfen beide Partner:innen mit dem Gefühl, in der Beziehung ihre ganz eigene Autonomie verloren zu haben. Sie müssten gemeinsam versuchen, ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse zu verstehen und vorzubringen, ohne die Beziehung zu gefährden. Also lernen, wie sie als Paar wachsen können, während sie gleichzeitig ihre individuelle Autonomie bewahren – es ist ja nicht so, dass Beziehungsarbeit aufhört, wenn man sich zusammen eingelebt und kennengelernt hat / vertraut geworden ist. Manche sagen, die Beziehungsarbeit geht dann erst (richtig) los 😉

 

Wir sehen: mehrere Bücher hierzu wären angebracht. Autonomie ist ein dynamischer und lebenslanger Prozess. Sich mit der eigenen Autonomie zu beschäftigen, erfordert oft Mut, Selbstreflexion und manchmal die Unterstützung eines Therapeuten bzw einer Therapeutin. Das Streben nach Autonomie ist jedoch grundlegend, und es führt zu einem authentischeren, erfüllteren Leben – und stärkt auch unsere Beziehungen zu Anderen.