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Woher kommen unsere Gefühle? Eine aktuelle Diskussion

Zu unseren Gefühlen haben wir besonderen Bezug. Wir glauben aufgrund unserer (Selbst)Wahrnehmung an Erklärungsmodelle, die unsere Erfahrungen bestätigen. Neue Theorien zum Ursprung der Gefühle werden nicht ohne weiteres angenommen. Über unsere Gefühle denken wir Menschen schließlich schon seit Jahrtausenden nach…

Aristoteles vermutete in seinem Werk De Anima, dass unser Herz das Zentrum unserer Gefühle sei. Es sende Wärme (oder auch Hitze, wie bei Zorn oder Angst) in den ganzen Körper aus, wohingegen der Kopf (also die Ratio) entsprechend für Abkühlung und Einordnung sorge. Nun, dies gilt als klar widerlegt – auch wenn wir das eigentlich gut nachempfinden können, finden Sie nicht auch?

In der neurowissenschaftlichen Forschung zum viszeralen Nervensystem (vgl. Damasio, Porges, et al) haben wir zudem seit einiger Zeit das Bauchgefühl entdeckt, als eine Quelle emotionaler Intuition, wozu wir „aus dem Bauch heraus“ auch einen Bezug herstellen können.

Viele gehen heute immer noch davon aus, dass unsere Amygdala im Kopf (im limbischen System) die Quelle unserer (grundsätzlichen) Gefühle sei: Wir würden in bestimmten, auslösenden Situationen mit Wut, Angst, Trauer, Ekel oder Überraschung regelrecht überschwemmt. Auch diese These können wir aufgrund unseres persönlichen Erlebens recht gut nachvollziehen, und sie stellt auch immer noch ein weit verbreitetes Erklärungsmodell dar. Laut Ekman (et al) sind dies unsere so genannten Basisgefühle, welche evolutionär verankert wären und wie innere Alarmsignale funktionierten.

Neuere Ansätze gehen aber davon aus, dass die Amygdala nicht die alleinige Quelle von unseren Gefühlen sei, sondern so etwas wie einen Knoten darstellt in einem neuronalen Netzwerk. Dass also Gefühle in einem interaktiven Prozess zwischen Amygdala, präfrontalem Kortex, Inselrinde, Hypothalamus und anderen Regionen entstünden. Und nicht nur das (s.u.).

 

Verwirrende Disksussion um den Ursprung unserer Gefühle

Ein weiterer, wichtiger Ursprung unserer Gefühle ist ja die soziale Interaktion. Wir haben unsere Gefühle gewissermaßen auf bestimmte Weise gelernt. Ist es möglich, dass diese Auffassung auch für unsere „archaischen Grundgefühle“ wie Angst, Wut, Trauer, Ekel und Überraschung gelten könnte? Also nicht nur für unsere sozialen sog. Sekundärgefühle wie Schuld, Scham und (oft kompensierend) Stolz (vgl. Sachsse, Balint, et al)?

Die prüfende Gegenfrage für unsere „Primärgefühle“ wäre ja: Können wir absolut sicher sein, dass z.B. im fernen Asien etwa Trauer gleich erlebt und gelebt wird, wie bei uns in der westlichen Welt? Dass die charakteristischen Gesichtsmerkmale und unser menschliches Verhalten bei Trauer überall gleich sind? Eher nicht (vgl. Feldman Barrett, et al).

 

Die Konstruktion der Gefühle aus dem Erfahrenen

Gefühle entstehen also nicht einfach nur im Gehirn an bestimmten Orten, sondern sie entwickeln sich – auch im präverbalen, nonverbalen,  paraverbalen, kommunikativen Durcheinander menschlicher Beziehungen. Sie sind auch sozial eingebettet in unseren Beziehungen, Familie(n) und Umwelten. Gefühle werden in dieser erweiterten Ursprungsauffassung als interaktionelle Phänomene verstanden, die in sozialen Wechselwirkungen einen Ursprung haben und stets Rückmeldungen an unser Umfeld geben.

 

Die Netzwerktheorie der Neuropsychologen – das Zusammenspiel, nicht die Faktoren selbst

Jetzt schalten wir einen Gang hoch. Nicht das Ursache-Wirkung Prinzip gilt, sondern die Form der Prozessualität. Alles bisher Beschriebene stellt nur Teile des Ganzen dar.

Aktuelle neuropsychologisch-konstruktivistische Ansätze beschreiben unsere Gefühlszustände als komplexe, neuronale Muster – erzeugt vom Gehirn, das ständig Vorhersagen darüber trifft, was uns als nächstes widerfahren könnte. Unser Gehirn agiert wie eine „lernende Maschine“, die ständig neue sensorische Informationen mit früheren Erfahrungen abgleicht und daraus emotionale Reaktionen generiert. Normen bilden dabei festere Muster, und Abweichungen oder Einzelphänomene haben weniger Impact (sofern sich die Umwelt nicht verändert und neue Bezüge entstehen).

Unsere Gefühle wären demnach so etwas wie eine permanente, eher unbewusste Vorhersage „unseres Geistes“. Und Dysfunktionalitäten hierin (Stress, Ängste, Depressionen, chronischer Schmerz, u.a., vgl. Feldmann Barrett, et al) könnten nur unzureichend mit Ursache-Wirkung Denken auf die einzelnen Bereiche umfassend verstanden (und behandelt) werden, sondern müssten in ihrer persönlichen Konzeption, im Zusammenspiel der Faktoren erfasst werden.

Schematisiert vereinfacht: Ein immer wieder Vorhersagen generierendes Gehirn, das aus

a) Erfahrungen und
b) aktuellen Sinneswahrnehmungen
c) Vorhersagen
d) modelliert,

kann also vier Fehlerquellen haben (a, b, c und d) – und daraufhin Befehle erteilen oder agieren. Sicher nachvollziehbar, dass zum Beispiel ein Medikament, oder eine bestimmte Therapie, meistens nur einen Teil beeinflussen kann. Die Systemtheorie sagt uns immerhin: ändere einen Teil, und die anderen im System werden reagieren – dies dann hoffentlich zum Guten. Doch Sie sehen: Ursache – Wirkung, das funkioniert so nicht.

 

Fazit für Schnell-Leser

Die aktuelle Diskussion betont die Rolle neuronaler Netzwerke und ihrer Anpassungsfähigkeit in der Verarbeitung emotionaler Erfahrungen.

Was lernen wir daraus? Gefühle lassen sich nicht endgültig fassen, sie entziehen sich (seit jeher) unserer vollständigen Definition. Genau darin liegt ihre Faszination und ihr Wert. Sie erinnern uns daran, dass wir keine „trivialen Maschinen“ (nach Luhman) sind, sondern komplexe, widersprüchliche und manchmal wunderbar unlogische Wesen.

Vielleicht ist das ja auch ein beruhigendes Gefühl.